Laut einer Unicef-Studie sind viele Kinder in Deutschland unglücklich. Sie sind gesund und werden gut gefördert – aber die Gesellschaft hat verlernt, mit ihnen zu sprechen und ihnen zuzuhören. Von Thomas Vitzthum
Ich habe Julia für eine lästige Frühaufsteherin gehalten. Die rennt, trampelt, herumhüpft. Aus Jux, weil ihr langweilig ist, malträtiert sie meine Nerven. Aus Gedankenlosigkeit lässt ihre Mutter das geschehen, dachte ich.
Und ich dachte auch: So sind Kinder. Julia wohnt über mir und ist ungefähr sieben Jahre alt. Ab fünf Uhr morgens höre ich sie. Nein, ich hörte sie. Denn vor Kurzem hab ich meinen Vorsatz, das ewig geschehen zu lassen, hinter meinen sich potenzierenden Ärger gestellt und bin nach oben gegangen.
Julias Mutter war nicht da, nur das Mädchen. Das war ein Glück. Wir kennen uns vom Hausflur, begrüßen uns immer lächelnd. Ich habe ihr erzählt, dass mein Schlafzimmer offenbar unter dem Raum liegt, wo sie sich morgens austobt. Dabei musste ich mich zu ihr hinunterbeugen, einfache Worte finden.
Und dann? Dann habe ich mich fast geschämt. Denn Julia hangelt sich nicht einfach so zwei Stunden vor mir aus dem Bett. Sie muss zur Schule, dafür weit fahren, sich motivieren. Sie braucht Bewegung wie ich meinen Schwarztee.
Lebenszufriedenheit der Deutschen
Wir haben einen Deal gemacht. Julia darf weiterhin toben, aber bis halb acht nicht mehr über meinem Schlafzimmer. Sie hält sich daran. Neulich hat sie mich gefragt, ob ich besser schlafen kann. Mein “Ja” zauberte ihr fast Stolz ins Gesicht.
Julia steht repräsentativ für viele Kinder in Deutschland, wie sie für eine Unicef-Studie befragt wurden. Es geht ihnen gut, sie sind gesund, genießen hohe Bildung, leisten viel von morgens bis abends. Und sie sind doch zu einem maßlos hohen Prozentsatz unglücklich.
An 22. Stelle rangiert Deutschland beim Faktor Lebenszufriedenheit. Warum? Weil diese Gesellschaft verlernt hat, mit den Kindern selbst zu sprechen, stattdessen ständig über sie redet, sich lieber Monate über sie ärgert, als ihre Perspektive einzunehmen.
Zwischen Kindern und Erwachsenen herrscht viel Unverständnis. Kinder und Jugendliche werden nicht für voll genommen. Das spüren sie, es macht sie unglücklich. Warum wollte ich eigentlich mit Julias Mutter reden? Sie trampelt nicht.
Quelle: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article115183015/Kinder-wollen-dass-man-sie-fuer-voll-nimmt.html