Gesichter lesen

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Wenn wir jemanden anschauen, erkennen wir oft intuitiv an der Mimik, welcher Stimmung er ist. Dass der Mensch diese evolutionär wertvolle Fähigkeit so gut beherrscht, verdankt er spezialisierten Hirnarealen, die der Gesichtserkennuung dienen.

Eine Fahrt mit dem Zug kann schnell einmal zu einer kleinen Sozialstudie werden. Denn oft genügt schon ein Blick in die Gesichter der Mitreisenden, um herauszufinden, wer sich gerade ärgert, wer sich freut und wer traurig ist. Dabei hat man die Leute um sich herum noch nie vorher gesehen. Doch wir Menschen sind Experten darin, die Emotionen anderer aus ihren Gesichtern herauszulesen.

Das hat zwei Gründe: Zum einen machen sich die so genannten Basisemotionen wie Freude, Überraschung, Wut, Trauer, Ekel oder Angst quer durch alle Kulturen durch das gleiche Mienenspiel bemerkbar – was es erleichtert, diese elementaren Gefühle identifizieren zu können. Zum anderen sind wir auch neurobiologisch bestens dafür ausgerüstet, im Antlitz anderer zu lesen wie in einem Buch. Spezielle Areale in unserem Gehirn ermöglichen es uns, anhand des mimischen Ausdrucks den emotionalen Zustand zu erkennen. Und mehr noch: Spiegelneurone helfen uns dabei, uns in die Gefühle der anderen hineinzuversetzen und ihre Lage nachzuempfinden – auf dass wir sie besser verstehen.

Das Wichtigste in Kürze

· Das richtige Deuten von Emotionen in der Mimik anderer ist ein evolutionärer Vorteil, der vor Gefahren schützt und das soziale Zusammenleben erleichtert.

· Im Gehirn gibt es spezialisierte Areale, die für die Erkennung von Gesichtsausdrücken zuständig sind.

· An der emotionalen Gesichtserkennung sind unter anderem der orbitofrontale Cortex, der Cortex im hinteren Abschnitt des superioren temporalen Sulkus und Teile des limbischen Systems wie die Amygdala beteiligt.

· Spiegelneurone helfen dabei, die Gefühle anderer nicht nur zu erkennen, sondern diese auch nachzuempfinden.

Gesichter lesen warnt vor Gefahren

Aus Sicht der Evolution ist diese Fähigkeit sinnvoll, denn sie stellt einen Überlebensvorteil dar. Weil Menschen seit jeher in Gruppen zusammenleben, mussten sie ein feines Gespür für den Innenzustand anderer „Rudelmitglieder“ entwickeln – um so ein kooperatives Miteinander überhaupt zu ermöglichen und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Wer die Stimmung seiner Mitmenschen treffsicher deuten kann, ist hier klar im Vorteil. Zudem können die Gefühle anderer auch indirekte Hinweise auf die Umgebung geben. Geht man etwa gemeinsam durch einen dichten Wald und der Gewährsmann zeigt plötzlich deutliche Anzeichen für Angst, während er in eine bestimmte Richtung starrt, ist für alle Beteiligten Vorsicht geboten. Freude oder Wohlbehagen hingegen signalisieren positive Umweltbedingungen oder ein zwischenmenschliches Interesse am anderen.

Wenn wir Gesichter betrachten, achten wir auf die Augen und die Mundpartie besonders stark. Sie sind bei emotionalen Gesichtsausdrücken oft besonders aussagekräftig. So deutet die Blickrichtung an, worauf sich die Mimik bezieht. Schließlich ist es ein wichtiger Unterschied, ob der wütend dreinblickende Mann, der mir entgegenkommt, seinen Blick auf mich gerichtet hat oder auf eine andere Person. Die Blickrichtung anderer wird zu großen Teilen im orbitofrontalen Cortex verarbeitet – das ist eine der Hirnregionen, die bei der emotionalen Gesichtserkennung aktiv wird.

Wut zeigt sich zum Beispiel an den zusammen gezogenen Augenbrauen und den schmaler werdenden Augen. Copyright: Paul Ekman Ph.D./ Paul Ekman Group, LLC Der Verarbeitungsprozess bei der emotionalen Gesichtserkennung erfolgt außerordentlich schnell. Bereits nach 170 Millisekunden hat das Gehirn eine erste Repräsentation des gesehenen Gesichtsausdruckes erzeugt. Nach 350 Millisekunden lösen Signale der Mandelkerne (Amydalae), die an der emotionalen Bewertung von Sinnesinformationen beteiligt sind, körperliche Reaktionen aus. Die Auswertung von emotionalen Reizen läuft sogar schneller als die von neutralen, vermutlich weil bei ihnen im Zweifelsfall sofortiges Handeln erforderlich ist – etwa Weglaufen oder Kämpfen.

Neuronale Erkennung von Gesichtern

Wie genau die Gesichtserkennung funktioniert, beschäftigt die Hirnforschung noch. Durch zahlreiche Studien können einige beteiligte Areale aber schon benannt werden: Die visuellen Eindrücke werden über den Thalamus, den zentralen Verteilerknoten für sensorische Informationen, an mehrere Areale weitergeleitet. Dabei gibt es einen bewussten Weg, der eine umfassende Interpretation des Gesehenen liefert, aber langsam ist. Und einen schnellen, unbewussten, aber auch fehleranfälligen Weg, der dafür sorgt, dass wir bei Gefahr sofort handeln können.

Die bewusste Route führt über die Hirnrinde in den primären visuellen Cortex am Hinterkopf, in ein Areal, das Forscher gemeinhin V1 nennen. Eine erste Gesichtserkennung erfolgt im inferioren okzipitalen Gyrus, einem Teil des visuellen Assoziationscortex. Von dort werden die Informationen zu zwei Arealen geleitet, die für unterschiedliche Bereiche der konkreteren Gesichtserkennung zuständig sind: Der laterale Teil des Gyrus fusiformis befasst sich verstärkt mit den unveränderlichen Merkmalen des Gesichtes und ist für die Identifikation individueller Merkmale zuständig. Mit diesem Areal erkennen wir also Freunde, Verwandte oder Bekannte.

Zur Analyse der Mimik hingegen trägt vermehrt die Hirnrinde entlang des hinteren superioren temporalen Sulcus bei, in welcher Informationen bezüglich Blickrichtung, Ausdruck und Lippenbewegung verarbeitet werden. Von dort gelangen die Informationen zur Amygdala und zur Insula, die dann die Emotionen hinter den Gesichtsausdrücken deuten. Diese Areale senden letztlich dann wiederum ein Feedback an den frontalen Cortex.

Amygdala als Mimik-Feuerwehr

Die unbewusste Route führt vom Thalamus direkt zur Amygdala. Dieser direkte Verarbeitungsweg ermöglicht eine besonders schnelle Reaktion auf Umweltreize. Denn er bereitet uns schon körperlich auf eine Flucht oder einen Kampf vor, bevor wir die potenzielle Bedrohung über die cortikale Schleife bewusst wahrgenommen haben. Die Amygdala ist sozusagen die Feuerwehr der Gesichtserkennung. Dazu passt, dass diese Hirnstruktur besonders stark auf ängstliche oder aggressive Mimik reagiert.

Soweit die Arbeitsteilung in der Theorie. Neurowissenschaftler vermuten jedoch, dass alle Areale, die der Gesichtserkennung dienen, miteinander in engem Kontakt stehen und sich gegenseitig beeinflussen können. So wurde nachgewiesen, dass der Gyrus fusiformis beim Anblick emotionaler Gesichtsausdrücke aktiv wird. Gleichzeitig zeigen aber Läsions-Studien, dass Menschen, bei denen dieses Areal beschädigt ist, zwar nicht mehr in der Lage sind, einzelne Gesichter zu erkennen, die Mimik im diesem Gesicht aber immer noch deuten können. Der Gyrus fusiformis ist also nicht direkt an der Mimik-Erkennung beteiligt, wird von dieser aber dennoch beeinflusst.

Läsionen werfen Licht auf Arbeitsteilung

Neben den Amygdalae sind noch andere Areale des Gehirns mit der emotionalen Bewertung von Gesichtsausdrücken betraut. Dies konnte man anhand von Patienten ermitteln, bei denen spezifische Hirnbereiche geschädigt oder zerstört sind. Dabei zeigte sich, dass Läsionen der Amygdala Probleme beim Erkennen von Angst hervorriefen. Schädigungen des ventralen Striatum hingegen führten zu Schwierigkeiten beim Deuten von wutverzerrten Gesichtsausdrücken. Und bei Läsionen der Insula konnten Patienten ein Gesicht, in dem sich Ekel widerspiegelte, nicht zuordnen.

Ekel ist leicht im Gesicht ablesbar – möglicherweise, weil es evolutionär von Vorteil war. Copyright: Paul Ekman,Ph.D./ Paul Ekman Group, LLC Auch Menschen mit Chorea Huntington oder Zwangsstörungen haben die Fähigkeit verloren, Ekel-Mienen zu erkennen. Die erblich bedingte Huntington-Krankheit führt zur Zerstörung des Nucleus caudatus und des Putamen, zweier zu den so genannten Basalganglien gehörenden Nervenzellregionen. Auch Zwangsstörungen stehen oft mit Veränderungen dieser Hirnareale in Zusammenhang. Gesunde hingegen zeigen in den Basalganglien und der Insula erhöhte Aktivität beim Anblick von Gesichtern, die vor Ekel verzogen sind.

Spiegelneurone helfen mitzufühlen

Um die Mimik unserer Mitmenschen korrekt zu interpretieren, sind außerdem noch ganz spezielle Nervenzellen wichtig, die italienische Forscher erst 1996 entdeckten: die Spiegelneurone. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand ermöglichen sie es uns nachzufühlen, was andere fühlen. Es gibt sie zum Beispiel im prämotorischen Cortex, aber auch in anderen Hirnregionen. Studien zeigen, dass es Patienten, bei denen der somatosensorischer Cortex und damit die dortigen Spiegelneurone beschädigt sind, ungleich schwerer fällt, Emotionen an der Mimik zu erkennen und richtig zu deuten.

Gesichter sind also nicht nur Spiegelbild der Seele anderer, sondern beeinflussen auch unser eigenes Seelenleben. Was sich wiederum bei jeder Zugfahrt erleben lässt. Lächelt uns ein Mitreisender freundlich an, lächelt man ohne nachzudenken mit. Und dabei heben sich nicht nur die Mundwinkel – sondern auch die Laune.

Quelle: http://dasgehirn.info

 

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